Gottfried Keller                     Schein und Wirklichkeit

1819 – 1890

 

I

 

In Mittagsglut, auf des Gebirges Grat
Schlief unter alten Fichten müd ich ein;
Ich schlief und träumte bis zum Abendschein
Von leerem Hoffen und verlorner Tat.

 

Schlaftrunken und verwirrt erwacht' ich spat;
Gerötet war ringsum Gebüsch und Stein,
Des Hochgebirges Eishaupt und Gebein,
Der Horizont ein sprühend Feuerrad.

 

Und rascher fühlt' ich meine Pulse gehen,
Ich hielt die Glut für lichtes Morgenrot,
Erharrend nun der Sonne Auferstehen.

 

Doch Berg um Berg versank in Schlaf und Tod.
Die Nacht stieg auf mit frostig rauhem Wehen,
Und mit dem Mond des Herzens alte Not.

 

 

 

II

 

So manchmal werd' ich irre an der Stunde,
An Tag und Jahr, ach, an der ganzen Zeit;
Es gärt und tost, doch mitten auf dem Grunde
Ist es so still, so kalt, so zugeschneit;

 

Habt ihr euch auf ein neues Jahr gefreut,
Die Zukunft preisend mit beredtem Munde?
Es rollt heran und schleudert, o wie weit!
Euch rückwärts. _ Ihr versinkt im alten Schlunde.

 

Doch kann ich nie die Hoffnung ganz verlieren,
Sind auch noch viele Nächte zu durchträumen,
Zu schlafen, zu durchwachen, zu durchfrieren!

 

So wahr erzürnte Wasser müssen schäumen,
Muss, ob der tiefsten Nacht, Tag triumphieren,
Und sieh: Schon bricht es rot aus Wolkensäumen!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gottfried Keller                     Vier Jugendfreunde

1819 – 1890

 

I

 

Du, der so lang im Herzen mich geborgen,
Mit allen meinen grämlichen Gebrechen,
Mit meinen hastig immer neuen Schwächen,
Mit allen meinen wunderlichen Sorgen,

 

Die Hand vergessend botest jeden Morgen,
Wenn ich die Nacht vorher mit blindem Stechen,
Mit ungerechtem oder bittrem Sprechen
Dir schnitt ins Herz, so treu und unverborgen;

 

Nicht um zu spähn nach Tadel oder Lobe,
Will ich dir diese Lieder übersenden,
Eh' unsre Jugendtage ganz erblassen:

 

Nein, nur zur letzten schwersten Freundesprobe!
Ich muss mich gegen deinen Glauben wenden -
Wirst du mich darum endlich doch verlassen?

 

 

 

II

 

Ich sehe dich mit lässig sichrer Hand
Die Schulterlinien einer Göttin schreiben,
Dazu den Hohn um deine Lippen treiben:
"'s ist nichts dahinter!" oder "eitler Tand!"

 

Seh' dich zuhinterst an der Schenke Wand
Bis Mitternacht bei den Gesellen bleiben;
Dein Schwarzaug' sucht des Witzes breite Scheiben,
Jedoch dein schöner Mund des Bechers Rand.

 

Du schlenderst heim, ein leichtes Liedchen pfeifend,
Drückst in die Kissen deine dunklen Locken,
Bald steigt im Traum dir neuer Schwank empor.

 

Zeigt er dir mich, in wachen Träumen schweifend,
Begeistert über hundert Bücher hocken?
Schon schwirrt dein Traumgelächter mir im Ohr!

 

 

 

III

 

Da liegt vor mir dein unglücksel'ger Brief,
Und weder Rat, noch Hilfe seh' ich winken;
Schwer ist das Aufstehen wohl nach solchem Sinken,
Du aber, Freund, du sankest fast zu tief!

 

Der Lenz, der dich von Blum' zu Blume rief.
Erloschen ist jetzt seiner Sonne Blinken;
Den du so sinnlos hastig musstest trinken,
Siehst du, was auf des Bechers Grunde schlief?

 

Ich aber steh' in Ohnmacht, in der Ferne,
Und fluch' der Kraft, die dich von mir getrieben,
Die nur zu wirren weiss und nie zu lösen.

 

Am Ende preis' ich meine dürft'gen Sterne;
Im Guten träge und zu blöd im Bösen,
Bin ich ein stilles Kind im Land geblieben!

 

 

 

IV

 

Ans Fenster schlägt ein unerschöpfter Regen,
Her rauscht die Mitternacht auf feuchten Schwingen,
Und mit dem Dunkel muss das Lämplein ringen -
Wie bin ich müd, ich will zu Bett mich legen!

 

Was sinn' ich noch zu meinem Abendsegen? -
In meinem Ohre summt ein leises Klingen
Und widerhallet ein verschollnes Singen:
Mein denket einer auf entfernten Wegen.

 

Bist du's, o Freund? Auch ich gedenke dein!
Sei mir gegrüsst im unsichtbaren Raume
Nach Jahren voll Vergessenheit und Leiden!

 

Bei unsrer Jugend bleichem Sternenschein
Sehn wir uns flüchtig fragend an im Traume,
Um wieder lang, auf immer wohl zu scheiden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gottfried Keller                     Von Kindern

1819 – 1890

 

I  Der Bettler

 

Man merkte, dass der Wein geraten war:
Der alte Bettler wankte aus dem Tor,
Die Wangen glühend, wie ein Rosenflor,
Mutwillig flatterte sein Silberhaar.

 

Und vor und hinter ihm die Kinderschar
Umdrängt' ihn, wie ein KleinBacchantenchor,
Draus ragte schwank der Selige empor,
Sich spiegelnd in den hundert Äuglein klar.

 

Am Morgen, als die Kinderlein noch schliefen,
Von jungen Träumen drollig angelacht,
Sah man den braunen Wald von Silber triefen.

 

Es war ein Reif gefallen über Nacht;
Der Alte lag erfroren in dem tiefen
Gebüsch, vom Rausch im Himmel aufgewacht.

 

 

 

II

 

Die Abendsonne lag am Bergeshang,
Ich stieg hinan und auf den goldnen Wegen
Kam weinend mir ein zartes Kind entgegen,
Das, mein nicht achtend, schreiend abwärts sprang.

 

Ums Haupt war duftig ihm ein Schein gelegen
Von Abendgold, das durch die Löcklein drang.
Ich sah ihm nach, bis ich den Gramgesang
Des Kleinen nur noch hörte aus den Hägen.

 

Zuletzt verstummte er; denn freundlich Kosen
Hört' ich den Schreihals liebevoll empfangen;
Dann tönt' empor der Jubelruf des Losen.

 

Ich aber bin vollends hinaufgegangen,
Wo oben blühten just die letzten Rosen,
Fern, wild und weh der Falken Stimmen klangen.

 

 

 

III

 

Ich sah jüngst einen Schwarm von frischen Knaben,
Gekoppelt und gezäumt wie ein Zug Pferde;
Sie wieherten und scharrten an der Erde
Und taten sonst, was Pferde an sich haben.

 

Und mehr noch; was sonst diesen ist Beschwerde,
Das schien die Buben köstlich zu erlaben;
Denn lustig sah ich durch die Gasse traben
Auf einen Peitschenknall die ganze Herde.

 

Das Leitseil war in eines Knirpses Händen,
Der, klein und schwach, nicht sparte seine Hiebe
Und launisch das Gespann liess gehn und wenden.

 

Wenn nur dies frühe Sinnbild niedrer Triebe,
Anstatt mit schlimmer Wirklichkeit zu enden,
Einst mit den Kinderschuhn verloren bliebe!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gottfried Keller                     Winterabend

1819 – 1890

Schneebleich lag eine Leiche, und es trank
Bei ihr der Totenwächter unverdrossen,
Bis endlich ihm der Himmel aufgeschlossen
Und er berauscht zu ihr aufs Lager sank.

 

Von rotem Wein den Becher voll und blank
Bot er dem Toten; bald war übergossen
Das Grabgesicht und purpurn überflossen
Das Leichenhemd; so trieb er tollen Schwank.

 

Die trunken rote Sonne übergiesst
Im Sinken dieses schneeverhüllte Land,
Dass Rosenschein von allen Hügeln fliesst;

 

Von Purpur trieft der Erde Grabgewand,
Doch die verblasste Leichenlippe tut
Erstarrt sich nimmer auf der roten Flut.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gottfried Keller                     Zur Verständigung

1819 – 1890

"Du bist ein Schreier, bist ein frecher Prahler,
Ein Drescher mehr auf abgedroschnen Halmen,
Ein Räuchlein mehr in der Empörung Qualmen,
Ein Vielversprecher und ein Wenigzahler!"

 

Gemach, o du Philisterschwarm, du kahler!
Bei dir nicht such' und End' ich meine Palmen;
Säng' ich, ein David, dir die hehrsten Psalmen,
Sie deuchten durch dein Lob mir so viel schaler.

 

Ich geb' es zu, ich habe laut geschrieen,
Ein rauhes Echo von geweihtern Tönen,
Und nur die gute Sache mag mich tragen!

 

Doch ist's mein Herzblut, das ich ausgespieen,
Der Schlachtschrei, der beim Angriff muss erdröhnen
Auf diesen folgt ein regelrechtes Schlagen!